30.03.2025

Autorenbegegnung mit Olga Tokarczuk in Dresden – ein Dialog über Erinnerung, Literatur und Identität

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© Verbindungsbüro des Freistaates Sachsen in Breslau / Biuro Łącznikowe Wolnego Państwa Saksonia we Wrocławiu

Am Sonntag, dem 30. März 2025, fand im Stadtmuseum Dresden eine Begegnung mit der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk statt.

Die Veranstaltung wurde vom Verbindungsbüro des Freistaates Sachsen in Breslau in Zusammenarbeit dem Kraszewski-Museum in Dresden initiiert.

Die Nobelpreisträgerin reiste aus Paris in die sächsische Landeshauptstadt an, wo ihr wenige Tage zuvor der Titel Doctor honoris causa der Sorbonne verliehen wurde. Olga Tokarczuk ist die erste polnische Schriftstellerin, die von der renommierten Pariser Universität diese Auszeichnung erhalten hat.

Die Anwesenheit einer der bedeutendsten zeitgenössischen europäischen Autorinnen war ein kulturelles Ereignis von besonderer Bedeutung für das Dresdner Kulturleben. Die Begegnung mit Olga Tokarczuk ermöglichte nicht nur dem deutschen Publikum einen tieferen Einblick in ihr Werk, sondern wurde auch zu einem Anlass für eine intensive Auseinandersetzung mit gemeinsamer Erinnerung und den Werten, die Polen und Deutschland verbinden.

Eröffnet wurde die Veranstaltung von Dr. Gisbert Porstmann, Direktor der Städtischen Museen Dresden.
Im Namen von Michael Kretschmer, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, begrüßte Dr. David Michel, Chef des Referats für Europa und Internationale Zusammenarbeit, die Nobelpreisträgerin. In seiner Ansprache ging er auf die laufende EU-Ratspräsidentschaft Polens ein und thematisierte die aktuelle Situation Europas aus Sicht der mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten. Er betonte die Bedeutung grenzüberschreitender regionaler Zusammenarbeit für den Zusammenhalt Europas sowie die Rolle Sachsens bei der Vertiefung guter Beziehungen zu seinen polnischen Partnerregionen. Dabei erinnerte er auch an zahlreiche Projekte, die gemeinsam mit der Woiwodschaft Niederschlesien realisiert wurden, darunter das langjährige Engagement Sachsens für das von Olga Tokarczuk ins Leben gerufene Literaturfestival „Góry Literatury“ (Berge der Literatur).

Moderiert wurde der Abend vom Literaturwissenschaftler und renommierten Übersetzer Dr. Lothar Quinkenstein. Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen zwei Werke von Olga Tokarczuk: „Empusion“ und „E.E.“, deren deutsche Ausgaben 2023 bzw. 2024 erschienen. Die Wahl dieser beiden Romane war bewusst getroffen – beide behandeln Fragen der Identität, kulturellen Wandlungsprozesse und des geistigen Erbes Mitteleuropas. Ihre Gegenüberstellung ermöglichte einen Einblick in die Komplexität der literarischen Welt der Autorin.

Der erste Teil des Gesprächs war dem Roman „Empusion“ gewidmet, der ein Jahr nach der Verleihung des Literaturnobelpreises erschienen ist. Die Handlung des Romans mit dem Untertitel „Ein Naturheilhorror“ spielt in einem der bekanntesten Heilbäder Europas, Görbersdorf (heute Sokołowsko in Niederschlesien). In eindrucksvoller Weise erschafft Tokarczuk in diesem Roman eine Atmosphäre der Geheimnisse und teils des Schreckens, durchzogen von Hinweisen auf ihre Weltanschauung. Hier überschneiden sich Fragen der Geschlechter, der weiblichen Subjektivität, aber auch der Darstellung von Männlichkeit, der Faszination für den Körper, von ökologischen Aspekten sowie einem flüchtigeren Wahrnehmen der Wirklichkeit und der Zeitdimension.

Tokarczuk bezeichnet „Empusion“ als literarische Antwort auf Thomas Manns „Zauberberg“. Ihre Faszination für das Werk des deutschen Autors reicht bis in ihre Jugend zurück. Heute – als gereifte Schriftstellerin – tritt sie in einen kritischen Dialog mit dessen Weltbild. Besonders intensiv beschäftigt sie sich mit den Frauenfiguren, die in Manns Werk oft auf untergeordnete Nebenrollen reduziert werden als Mütter, Geliebte oder Dienstmädchen, selten als autonome Individuen. Durch die Paraphrasierung von Texten verschiedener Philosophen, Gelehrten und Literaten formuliert Tokarczuk nicht nur eine klare Gegenposition, sondern entlarvt auch die zeitlose Allgegenwärtigkeit solcher Denkweisen. Auszüge aus dem Roman sowie Paraphrasen misogyn geprägter Aussagen u. a. von Platon, Augustinus, Shakespeare, Nietzsche und Charles Darwin wurden von Uwe Behnisch mitreißend rezitiert.

Der zweite Teil des Abends widmete sich dem Roman „E.E.“ – einem Frühwerk Tokarczuks aus den 1990er-Jahren. Die Autorin erklärte, dass sie sich bei dessen Entstehung von der Doktorarbeit Carl Gustav Jungs inspirieren ließ. Der Roman spielt im zwischenkriegszeitlichen Breslau und erzählt die Geschichte eines Mädchens, das auf geheimnisvolle Weise mediale Fähigkeiten entwickelt. Neben der mystischen Erfahrung der Protagonistin zeichnet der Roman ein literarisches Bild des spirituellen Klimas im Vorkriegs-Breslau.

Besonders faszinierend – so Tokarczuk – sei für sie das Phänomen gewesen, wie polnische Siedler nach dem Zweiten Weltkrieg das deutsche Kulturerbe der heutigen westlichen Gebiete Polens übernahmen, welches im Laufe der Zeit Teil ihrer eigenen Geschichte wurde. Ihrer Meinung nach ist ein Leben ohne kulturelle Wurzeln kaum vorstellbar – selbst wenn diese aus einer fremden Vergangenheit stammen.

Das Publikum verfolgte das Gespräch mit der Nobelpreisträgerin mit großem Interesse. Aus dem literarischen Abend erwuchs eine tiefgehende Reflexion über Geschichte, Erinnerungskultur und den Wert des interkulturellen Dialogs im heutigen Europa. Die Veranstaltung zeigte eindrucksvoll, dass Literatur nicht nur ein künstlerischer Ausdruck ist, sondern auch ein Werkzeug – um Brücken zwischen Menschen, Zeiten und Kulturen zu bauen.

Die Veranstaltung versammelte über 200 Besucher, darunter hochrangige Vertreter des Freistaates Sachsen, Abgeordnete des Sächsischen Landtags, Vertreter aus Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft sowie aus dem akademischen Umfeld. Zahlreich erschienen auch Einwohner Sachsens – darunter Angehörige der lokalen polnischen Gemeinschaft, für die das Treffen mit Olga Tokarczuk eine besondere emotionale und symbolische Bedeutung hatte.

Nach der Veranstaltung signierte die Nobelpreisträgerin ihre Bücher und kam mit dem Publikum ins Gespräch.

Das Verbindungsbüro des Freistaates Sachsen in Breslau spricht dem ehemaligen Leiter des sächsischen Verbindungsbüros in Breslau, Uwe Behnisch, seinen besonderen Dank für die Unterstützung bei der Organisation und Durchführung der Veranstaltung aus.

 

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